Dialektliteratur heute
Dialektliteratur heute – regional und international
Forschungskolloquium am Interdisziplinären Zentrum für Dialektforschung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 19.11.2009–20.11.2009
Herausgegeben von Horst Haider Munske
Horst Haider Munske (Erlangen)
Vorwort [Volltext]
Robert Langhanke (Flensburg/Kiel)
Neuniederdeutsche Literatur: Über Beginn und nahenden Abschluss einer überschaubaren Literaturtradition
[Abstract] [Volltext]
Jos Swanenberg (Tilburg) und Lauran Toorians (Loon op Zand)
Dialektliteratur in Nord-Brabant
[Abstract] [Volltext] (*)
Manfred Woidich (Amsterdam)
Von der wörtlichen Rede zur Sachprosa: Zur Entwicklung der Ägyptisch-Arabischen Dialektliteratur
[Abstract] [Volltext]
Hans-Ingo Radatz (Frankfurt am Main)
»Dialektliteratur« in Spanien?
[Abstract] [Volltext]
Titus Heydenreich (Erlangen)
Polemik und Poesie. Fall und Aufstieg der Dialekte im heutigen Italien
[Abstract] [Volltext] (*)
Veröffentlicht im Dezember 2010 auf dem OPUS-Server der Universität Erlangen-Nürnberg
(*) Der Beitrag enthält Tondokumente
Das Kolloquium wurde von den Vorständen des Interdisziplinären Zentrums für Dialekte und Sprachvariation, den Erlanger Hochschullehrern Andreas Dufter (Romanistische Linguistik), Jürgen Lang(Romanistische Linguistik), Titus Heydenreich (Romanistische Literaturwissenschaft), Shabo Talay(Orientalistik), Sebastian Kürschner (Variationslinguistik und Sprachkontaktforschung) sowie Horst Haider Munske (Germanische und deutsche Sprachwissenschaft und Mundartkunde) vorbereitet und durchgeführt.
Abstracts
Robert Langhanke (Kiel/Flensburg): Neuniederdeutsche Literatur: Über Beginn und nahenden Abschluss einer überschaubaren Literaturtradition
Niederdeutsche Dialektliteratur ist das Arbeitsgebiet der neuniederdeutschen Literaturwissenschaft. Vor dem Hintergrund der sprach- und literaturgeschichtlichen Entwicklung wird dargelegt, dass nach 1800 eine eigenständige neuniederdeutsche Literatur ausgebildet wurde. Die Diskussion darüber, ob diese Literatur eine Literatur wie jede andere Literatur sei, kann nicht als endgültig entschieden gelten. Ein Fünf-Phasen-Modell zur niederdeutschen Schriftlichkeit beschreibt die drei bisherigen Anläufe zu einer niederdeutschen Schriftlichkeit und gibt einen Ausblick, da die gegenwärtige Situation auf den Abschluss der niederdeutschen Literaturtradition in vielen Regionen in den nächsten Jahrzehnten hindeutet. Durch die Betrachtung der Verwendung niederdeutscher Texte im Bereich dialektologischer Forschung wird auf einen besonderen Rezeptionsaspekt hingewiesen. Neuniederdeutsche Literatur nimmt durch die Vielfalt der umgesetzten literarischen Gattungen und den Erfolg einiger Autoren einen besonderen Rang unter den Dialektliteraturen ein, ist aber dennoch in eine schwierige Situation geraten, da die Zahl der Autoren und Leser abnimmt. Die spezifische Sprachsituation in Norddeutschland hat den Erfolg dieser Literatur zunächst befördert und ist heute verantwortlich für ihren rapiden Rückgang.
Jos Swanenberg (Tilburg) und Lauran Toorians(Loon op Zand): Dialektliteratur in Nord-Brabant
Nord-Brabant ist eine große Provinz im Süden der Niederlande, die vor allem in Ost-West-Richtung eine große Diversität an Dialekten aufweist. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen einige Schriftsteller, in Pamphleten, Reisebeschreibungen und Kurzgeschichten auch im Dialekt zu schreiben. Sie taten dies, um das Lokalkolorit widerzuspiegeln oder um Beispiele im Dialekt zu geben, also aus sprachwissenschaftlichem Interesse. Diese Situation veränderte sich erst nach 1920. Vor allem Missionare nutzten dann die Dialekte, um Gedichte und – in geringerer Zahl – Kurzgeschichten zu schreiben. Es handelte sich um Priester aus dem gewöhnlichen Volk mit guter Ausbildung, die in ihrer Missionsarbeit mit fremden Sprachen in Kontakt kamen und Heimweh nach der Stadt oder dem Dorf ihrer Jugend hatten. Ihre Arbeiten wurden von anderen Schriftstellern, Priestern und Schulmeistern gut aufgenommen. So erreichte der Dialekt auch das Amateurtheater. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herrscht das Gefühl vor, den Dialekt vor dem Aussterben retten zu müssen. Volkslieder und manchmal auch Erzählungen wurden niedergeschrieben, Wörterbücher erstellt, und wer Prosa oder Poesie im Dialekt verfasste, tat das fast immer aus Nostalgie. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entdeckten jüngere Künstler den Dialekt als Mittel, um in Musik und Theater einen neuen, eigenen, verspielten und oft absurden Ton zu erzeugen. Bei den älteren Generationen finden diese jüngeren Künstler kaum Anschluss. Daneben gibt es einige jüngere Schriftsteller, die die nostalgische Strömung hinter sich gelassen haben und nach einer authentischen Dialektliteratur streben, die – so klein die Wirkungskreise auch sein mögen – von Qualität und Lebenskraft geprägt ist.
Manfred Woidich (Amsterdam): Von der wörtlichen Rede zur Sachprosa: Zur Entwicklung der Ägyptisch-Arabischen Dialektliteratur
In theory, the diglossic situation in the Arab world allows only Classical/ Standard Arabic for writing serious texts and literature, whereas colloquial Arabic is confined to less serious topics such as folk poetry and shadow plays, two genres which can be regarded essentially as consisting of written-down speech. Nevertheless, evidence from contemporary Egypt increasingly indicates that colloquial Egyptian is being deliberately used for expository texts as well, a development which can be traced back to the last decades of the 19th century. The article describes this development and shows how writers in Egyptian began a step-by-step process of emancipating themselves from the spoken word. In the 1940s, conscious efforts to see if Egyptian colloquial Arabic could be used to compose serious texts were made. Towards the end of the 20th century, writing in the colloquial achieved independence from the spoken word, and composing expository prose in the colloquial became possible. In view of this and other developments in recent decades, Egyptian Arabic must be seen as an »Ausbaudialekt« that is fit for nearly all functions of a full-fledged language.
Hans-Ingo Radatz (Bamberg): »Dialektliteratur« in Spanien?
Dialektliteratur hat in Spanien einen völlig anderen Stellenwert als in Deutschland. Der Beitrag illustriert, wie der gescheiterte Zentralismus, die historische Mehrsprachigkeit und die daraus entstandenen Sprachdiskurse in Spanien den Begriff des Dialekts politisiert haben und so die Entstehung von Dialektliteraturen eher behindern als begünstigen. An deren Stelle tritt in Spanien häufig der Ausbau regionaler Varietäten zu normierten Schriftsprachen, die mit dem expliziten Anspruch auftreten, eben keineDialekte zu sein.
Titus Heydenreich (Erlangen): Polemik und Poesie. Fall und Aufstieg der Dialekte im heutigen Italien
Die kulturelle, auch sprachliche Eigenständigkeit der italienischen Regionen blieb auch nach Entstehung der Nation Italien (1861–1870) erhalten. Bedroht werden gesprochene Mundarten erst in jüngster Zeit durch nivellierende Medien und unzulängliche Förderung in Familie und Schule. Doch während Dialekte in der Sprachpraxis aussterben, setzen Schriftsteller, Liederdichter, Cineasten (Drehbuchautoren) eine seit dem 17. Jahrhundert überreiche Tradition fort. Sie bewirken, dass neben der schon im 14. Jahrhundert sich ausbreitenden hochitalienischen Literatur auch ernstzunehmende, weil z. T. überregionale Themen behandelnde Literaturen in Rom, Mailand, Bologna, Neapel, im Friaul, auf Sizilien, Sardinien und anderenorts eine regelrechte Renaissance erleben.